Ein Jahr mit Omar von Afghanistan nach Europa
Sachbuchtipp: Ein Reporter gibt sich ein Jahr lang als afghanischer Flüchtling aus.
„The Naked Don’t Fear The Water – An Underground Journey with Afghan Refugees“ (von Matthieu Aikins in 2022 bei HarperCollins)
In den vergangenen Jahren habe ich vermutlich tausende Artikel über Flüchtlinge, ihre Hürden und ihre Schicksale gelesen – aber kein Text und bisher auch kein Buch hat mir ihren Weg und ihren Kampf für ein besseres Leben so direkt und differenziert nahe gebracht wie „The Naked Don’t Fear The Water“.
Für sein Buch hat Matthieu Aikins seinen Freund Omar auf seiner Flucht begleitet. Aikins selbst ist Kanadier, geht dank einer japanischen Mutter und guter Sprachkenntnisse aber als Afghane durch. Und nutzt dies für eine einjährige Undercover-Recherche. Er begibt sich ohne Pass, aber gemeinsam mit Omar auf die Reise und erlebt so hautnah die Hürden, die Verzweiflung, die Ohnmacht seines Freundes und vieler Leidensgenossen.
Ohne zu viel spoilern zu wollen: Aikins erlebt auf seiner Reise sehr viel von dem, was seit Jahren auch in der deutschen Presse diskutiert wird von innen. Und er beschreibt die Probleme als Kanadier mit einer angenehmen Klarheit. Er lässt seine Mitreisenden zu Wort kommen und nimmt sich Zeit, über die absurden Situationen, die Gefühle und den Kontext zu reflektieren. Ein sehr kluges, sehr gut erzähltes Buch, das nochmal Perspektive gibt auch in der aktuellen Diskussion um die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen aus Europa, Asien und Afrika.
Wer noch mehr über Aikins Arbeit und das Buch erfahren will, kann sich das kürzlich erschienene Interview mit ihm im oft sehr empfehlenswerten Longform-Podcast anhören.
Aikins Buch hat mich an ein Buch eines deutschen Reporters erinnert, das mir seit Jahren nicht aus dem Kopf geht: „Über das Meer“ von ZEIT-Reporter Wolfgang Bauer. Für diese buchlange Reportage gibt sich Bauer ebenfalls als Flüchtling aus und versucht, von Ägypten über das Mittelmeer zu reisen. Die Recherche ist weniger umfangreich als die von Aikins, aber trotzdem sehr lesenswert. Bauers Buch erschien im Jahr 2014, also noch bevor das Thema Fluchtroute Mittelmeer große Konjunktur bekam.
Außerdem möchte ich noch zwei Bücher über Afghanistan empfehlen, die mich sehr beeindruckt haben.
Da ist zum einen das Standardwerk über all das, was vor dem 11. September 2001 in Afghanistan passiert ist und welche unrühmliche Rolle die USA gespielt haben: „Ghost Wars: The Secret History of the CIA, Afghanistan, and bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001“ vom Dean der Columbia Journalism School und ehemaligen New Yorker-Reporter Steve Coll aus dem Jahr 2004. Das Buch hat damals den Pulitzer Preis in der Kategorie Sachbuch gewonnen, den wichtigsten Journalistenpreis der Welt.
Und da ist zum anderen das großartige Buch „No Good Men Among the Living: America, the Taliban and the War Through Afghan Eyes“ von Reporter Anand Gopal, in dem er anhand dreier afghanischer Protagonist:innen das Leben in Afghanistan nach dem 11. September 2001 beschreibt. Ein unfassbar gut erzähltes Buch, nachdem ich das Gefühl hatte, ein besseres Bild des echten Afghanistan zu haben als ich es zuvor vielleicht hatte. Das Buch wurde 2015 für den Pulitzer Preis nominiert.
Diskutiert gerne mit mir auf Twitter oder in den Kommentaren über die Bücher – oder empfehlt mir weitere Bücher, die ich für dieses Jahr auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel
(PS: Hier findet Ihr nochmal ein paar Worte über die Idee dieses Newsletters.)
Danke für den Tipp, das Buch von Aikin kenne ich noch nicht. "Ghost Wars" fand ich auch sehr gut (u.a. hat der Autor fast vorausgesehen, wo Bin Laden steckt, damals war er noch in Pakistan) und das von Wolfgang Bauer auch. Für Kinder (aber nicht nur) finde ich auch "Hesmats Flucht" von Wolfgang Böhmer sehr gut. Ansonsten natürlich Ronja von Wurmb-Seibels "Ausgerechnet Kabul" und Rory Stewarts Wanderreportage "The Places in Between". Christina Lamb "Farewell Kabul" fand ich auch lesenswert - es gibt tatsächlich eine ganze Reihe guter Bücher (Sachbücher und Fiktives) zu Afghanistan (aber auch weniger Gutes).