Ich bin seit rund zwei Jahrzehnten ein großer Fan der journalistischen Recherche. Und habe in diesen Jahren sehr viele Bücher von investigativen Reporter:innen gelesen. Viele dieser Bücher sind großartig geschrieben (darunter zum Beispiel „Billion Dollar Whale“ von Tom Wright und Bradley Hope oder „Say Nothing“ von Patrick Radden Keefe). Aber wenige Bücher geben einen wirklich dichten, wirklich realistischen, wirklich guten Einblick in die konkrete Arbeit, die hinter diesen Recherchen steckt.
Morgen beginne ich einen neuen Job. Ich werde stellvertretender Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Ich freue mich sehr auf diese neue Aufgabe, auch weil ich in Zukunft mit sehr vielen herausragenden (investigativen) Reporter:innen und Redakteur:innen in drei der besten Medienhäuser Deutschlands arbeiten darf.
Aus Vorfreude empfehle ich deshalb heute ganz gezielt die drei Bücher, von denen ich glaube, dass man als Leser:in am meisten über unsere Arbeit als investigativ arbeitende Journalist:innen lernen kann.
„All the President’s Men“ von Bob Woodward und Carl Bernstein – Ich weiß, das scheint ein wenig einfallslos zu sein, aber glaubt mir, es lohnt sich. Das Buch, erschienen im Jahr 1974, beschreibt Schritt für Schritt, wie die beiden damals noch sehr jungen Reporter den Watergate-Skandal aufgeklärt haben. Auf 350 Seiten wird klar, wie kleinteilig und aufwändig die Arbeit war. Wie häufig die beiden in Sackgassen landeten. Welche Quellen sie wann, warum und wie angesprochen haben. Und welche Methoden sie nutzten. Einiges ist nicht auf Recherchen in Deutschland übertragbar, vor allem nicht 50 Jahre später, aber die Grundlagen, der Spirit, das Gefühl für investigative Recherche, das kommt auch heute noch sehr gut rüber. (Auf deutsch als „Die Watergate-Affäre“.)
„Bad Blood: Secrets and Lies in a Silicon Valley Startup“ von John Carreyrou – Der Autor dieses Buches war Reporter des Wall Street Journal und deckte 2015 mit seinen Recherchen den Skandal um Elizabeth Holmes und ihre Firma Theranos auf. Das drei Jahre später erschienene Buch eignet sich hervorragend als journalistische Fallstudie, weil Carreyrou das Buch in zwei Teile teilt. In der ersten Hälfte beschreibt er den Aufstieg von Holmes und Theranos. In der zweiten Hälfte, erzählerisch klug übergeleitet, beschreibt er seine Recherchen und wie er trotz allen Widerstandes von Holmes und ihren Geschäftspartnern auf die Schliche kam. (Auf deutsch als „Bad Blood: Die wahre Geschichte des größtes Betrugs im Silicon Valley“.)
„She Said: Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement“ von Jodi Kantor und Megan Twohey – Der Sachbuchkritiker der Washington Post, Carlos Lozada, beschreibt das Buch als „All the President’s Men for the Me Too era“ und besser kann ich es nicht zusammenfassen. Kantor und Twohey waren die ersten, die über den Weinstein-Skandal im Jahr 2017 berichteten. Ihre Recherchen und die von Ronan Farrow im New Yorker starteten das, was wir bis heute unter MeToo kennen. Farrow hat ein ebenfalls lesenswertes Buch über seine Recherchen geschrieben, aber ich empfehle „She Said“, weil es detaillierter ist und die Arbeit als investigative Journalist:innen weniger heroisierend, dafür konkreter beschreibt. Kantor und Twohey erzählen ganz pragmatisch, wie sie vorgegangen sind und welche Wege sie gefunden haben, um trotz großer Ängste bei ihren Quellen voranzukommen. Zum Teil drucken sie sogar ihre Mail-Anfragen an potentielle Quellen im Buch ab, so dass man einen guten Einblick in die alltäglichen Abläufe bis hin zu tatsächlichen Formulierungen bekommt. Ich habe in dem Buch vieles von dem wieder erkannt, was ich in den vergangenen Jahren als betreuender Redakteur von MeToo-Recherchen erlebt habe. Eine sehr detaillierte, sehr realistische Darstellung dessen, was modernen investigativen Journalismus ausmacht. (Auf deutsch als „#MeToo: Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung“.)
Und noch eine Empfehlung, zum Abschluss.
Es gibt kluge Bücher über Haltung und Objektivität („Just a Journalist“ von Linda Greenhouse), über eine der Erfinderinnen des investigativen Journalismus („Citizen Reporters“ von Stephanie Gorton), über die Arbeit als Buchautor („Working“ von Robert A. Caro) oder über das Verhältnis von Journalist:innen zu ihren Quellen („The Journalist and the Murderer“ von Janet Malcolm). Es gibt unzählige gut aufgeschriebene Sachbücher, die journalistische Recherchen beschreiben. Und so viele Ratgeber für das Handwerk als Reporter:in.
Trotzdem, so finde ich, braucht es (neben den drei oben empfohlenen, erzählten Sachbüchern natürlich) nur ein einziges Buch, um die Grundlagen des Journalismus zu verstehen und einen Kompass zu entwickeln, der einen mit Klarheit leiten kann, selbst in schwierigen Fragen und Graubereichen. „The Elements of Journalism“ von Bill Kovach und Tom Rosenstiel nimmt sich die Grundlagen des Journalismus vor, beschreibt die Aufgaben von Reporter:innen, den gesellschaftlichen Kontext ihrer Arbeit und all das, was sich daraus ableitet. Hier gibt es einen guten Auszug aus dem Buch.
Ich habe damals, als ich 2017 bei BuzzFeed Deutschland als Chefredakteur angefangen und ein News-Team aufgebaut habe, allen neuen Mitarbeiter:innen eine Ausgabe geschenkt. Keine Ahnung, ob die Kolleg:innen das damals wirklich gelesen oder innerlich nur mit den Augen gerollt haben, aber ich bin bis heute großer Fan dieses Buches.
Diskutiert gerne mit mir auf Twitter oder in den Kommentaren über die Bücher – oder empfehlt mir weitere, die ich für dieses Jahr auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel
(PS: Hier findet Ihr nochmal ein paar Worte über die Idee dieses Newsletters und was Euch in den kommenden Ausgaben erwarten wird.)