Buchtipp: Auf der Spur des giftigen Bleis
„What the Eyes Don't See“ – und drei weitere Sachbücher über die Jagd nach Umweltverbrechern
What the Eyes Don’t See – A Stor of Crisis, Resistance, and Hope in an Amercian City (von Mona Hanna-Atisha in 2019)
Hätte jemand ein perfektes Buchcover gestalten müssen, um mich zum Kauf zu bewegen, das Cover von „What the Eyes Don’t See“ käme dem ziemlich nahe. Eine Ärztin, die für ihre kleinen Patient:innen kämpft, die von den Behörden ignoriert wird, die Widerstände überwinden muss, Verbündete sucht und am Ende… ok, den Spoiler spare ich mir jetzt mal für alle, die nicht so vertraut sind mit der großen „Blei im Wasser“-Krise der amerikanischen Mittelstadt Flint, Michigan.
Die Kinderärztin Mona Hanna-Attisha spricht bei einer Grillparty mit einer alten Freundin. Die erzählt ihr von dem Verdacht, dass die Bleiwerte im Trinkwasser erhöht seien. Hanna-Atthisha weiß: Blei ist eines der schlimmsten Nervengifte überhaupt und verzögert die Entwicklung von kleinen Kindern dramatisch. Sie recherchiert, findet zahlreiche Indizien für das Problem und entschließt sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
Hanna-Atthisha hat das Buch selbst geschrieben. Das hat Vor- und Nachteile. Ich bin als Leser sehr nah an ihr dran. Sie erzählt die sehr interessante Geschichte ihrer aus dem Irak stammenden Familie. Teilweise habe ich mich gefühlt, als säße ich mit ihr, ihrem Mann Elliott, den beiden Töchtern Layla und Nina und Oma „Bebe“ am Küchentisch. Gleichzeitig habe ich so auch einige Perspektiven auf die Krise (und andere mögliche Erzählstränge) verpasst. Zum Teil sind die privaten Erzählungen auch etwas sehr lang. Vor allem gegen Ende doppeln sich einige Dinge, die ein:e Journalist:in vermutlich klarer erzählt hätte.
Trotzdem: Eine gute und in weiten Teilen auch gut erzählte Geschichte, bei der ich nebenbei noch einiges über Blei erfahre, über die Geschichte von Umweltverbrechen, Public Health und sozialer Umweltgerechtigkeit („Environmental Justice“).
Ich bin ganz grundsätzlich ein großer Fan von Held:innen, die Umweltverbrechen aufdecken. Deshalb möchte ich auch noch drei weitere, noch besser erzählte Bücher empfehlen.
„A Civil Action“ von Jonathan Harr ist vor einigen Jahren das erste Sachbuch gewesen, bei dem ich schockiert war, wie gut Autor:innen Sachbücher erzählen können. Ich konnte damals tatsächlich nicht glauben, dass das alles recherchiert und nicht erfunden sein soll, so detailliert und aufwändig wie Autor Jonathan Harr die Geschichte aufgeschrieben hat. Harr folgt dem Anwalt Jan Schlichtmann, der über Jahre für die Entschädigung der Bewohner einer kleine Stadt kämpft und sich dabei selbst ruiniert. Das Buch war Vorlage für den gleichnamigen Film mit John Travolta – den ich bis heute nicht gesehen habe, zu groß ist die Angst, dass er mir dieses herausragende Buch ruiniert.
„Toms River – A Story of Science and Salvation“ hat 2014 den Pulitzer-Preis als bestes Sachbuch gewonnen. Der Wissenschaftsjournalist und Journalismus-Professor von der NYU, Dan Fagin, zeichnet nach, wie eine Chemiefabrik des Konzerns Ciba-Geigy (heute Novartis) über Jahrzehnte einen Ort in New Jersey vergiftet hat. Und wie schwer es ist, zu belegen, dass die vielen Kinder, die dort an Krebs erkranken, genau wegen dieser Chemikalien erkrankt sind. Fagins sehr gut recherchiertes Buch erzählt die Geschichte wie eine Detektivstory, folgt einzelnen Bewohner:innen und Wissenschaftler:innen – und erklärt nebenher sehr viel über Epidemiologie, Chemie und Wissenschaft. Ich tue mich immer schwer, wenn Leute mich fragen, was mein Lieblings-Sachbuch ist, aber das hier nenne ich vermutlich am häufigsten.
Für „Amity and Prosperity – One Family and the Fracturing of America“ ist die Autorin Eliza Griswold sieben Jahre lang einer Frau gefolgt, die in einem Fracking-Gebiet in Pennsylvania lebt und deren Kinder krank werden – wegen der verschmutzten Luft und des vergifteten Wassers. Griswold erzählt das Schicksal und den Kampf dieser Familie und ihrer Nachbarn, sehr eng, sehr drastisch. Ich habe in diesem Buch noch einmal sehr viel über Fracking gelernt. Das Buch hat 2019 den Pulitzer-Preis als „Bestes Sachbuch“ gewonnen.
Oh, und ein Bonus-Tipp. Kein Buch, aber ein langes Feature, aus dem ein Hollywood-Film geworden ist. „The Lawyer Who Became DuPont’s Worst Nightmare“ ist eine Recherche von Nathaniel Rich (der „Losing Earth“ schrieb – hatte ich im vergangenen Newsletter empfohlen). Es geht um Rob Bilott, der lange Chemiefirmen verteidigte – bis ihn ein Bauer aus der Heimatstadt seiner Oma anruft und ihm von dutzenden toten Kühen erzählt. Bilott zögert, fährt schließlich in die Heimat, schmeißt seinen Job, nimmt den Fall an und deckt ein riesiges, jahrzehntelanges Chemieverbrechen auf. Wem die Geschichte bekannt vorkommt: „Dark Waters“ („Vergiftete Wahrheit“) heißt die Verfilmung mit Mark Ruffalo, die 2019 in den Kinos war. Die Recherche gibt’s hier bei der New York Times (aus 2016). Wie immer finde ich gilt auch hier: lieber erst Text lesen, dann Film schauen.
Diskutiert gerne mit mir auf Twitter oder in den Kommentaren über die Bücher – oder empfehlt mir weitere Bücher, die ich für dieses Jahr auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag gerne weiter – egal ob per E-Mail an Freunde oder in den sozialen Medien an die ganze Welt. Ich würde mich freuen.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel
(PS: Hier findet Ihr nochmal ein paar Worte über die Idee dieses Newsletters und was Euch in den kommenden Ausgaben erwarten wird. Im nächsten Newsletter werde ich ein paar Bücher über Medizin und Gesundheit empfehlen.)